Erwartete Dankbarkeit

Dankbarkeit. Ein Wort, das mich einengt wie ein viel zu enger Mantel, der mir nicht gehört. Ein Wort, das mich klein macht, mich erstickt, mich erstarren lässt. Zumindest, wenn sie von mir erwartet wird.

Ich habe damals rasch gelernt, dass man als arme Person nicht wählerisch sein darf. Dass ich keine Wünsche haben darf, keine Vorlieben, keine Ansprüche. Dass mir Dinge – egal ob Möbel oder Kleidung – nicht gefallen müssen, ja sogar nicht gefallen dürfen, wenn ich sie geschenkt bekomme. Denn wer nichts hat, muss nehmen, was er bekommt. Ohne Fragen zu stellen. Ohne Widerworte. Ohne eine Miene zu verziehen.

Denn Armut nimmt dir nicht nur das Geld. Sie nimmt dir dein Recht, Nein zu sagen. Nein zu Kleidung, die nicht deine ist, die dir nicht passt, die nach fremden Menschen riecht. Nein zu Möbeln, die deine Wohnung ersticken, die du nicht willst, die dir aufgedrängt werden. Nein zu Hilfe, die keine ist, sondern eine Schuld, die du begleichen musst.

Ich weiß nicht mehr, wann genau es begann. Wann ich das erste Mal das Gefühl hatte, dass Hilfe kein Segen ist, sondern eine Bürde. Vielleicht, als mir ein riesiger Müllsack mit Kleidung vor die Füße gekippt wurde.

„Hier, ich hab dir was mitgebracht!“, sagte die entfernte Verwandte mit einem Lächeln, als hätte sie mir gerade die Welt geschenkt. Ich schluckte schwer, zwang mich zu einem Lächeln und griff in den Sack.

Heraus zog ich einen unförmigen, ausgewaschenen Pullover, der nach Keller roch. Darunter eine Bluse mit riesigem Kragen, wie aus den Achtzigern. Röcke in unpassenden Größen, Männerhemden, Strumpfhosen mit Laufmaschen. Dinge, die mir nicht passten und die ich nie tragen würde. Dinge, die jemand anderes loswerden wollte.

Ich spürte, wie sich Scham in meiner Brust ausbreitete – heiß und drückend. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht diejenige sein, die den Ausschuss anderer tragen muss. Doch was konnte ich tun? Ablehnen? Das kam nicht infrage. Also nickte ich, bedankte mich, drückte die Kleidung an mich, als wäre sie ein Geschenk, das mir wirklich Freude machte.

„Falls dir was nicht gefällt, gib’s einfach weiter!“, sagte sie fröhlich. Ich wusste, das war keine echte Großzügigkeit. Es war nur eine einfache Möglichkeit, sich des alten Krempels zu entledigen – und sich dabei auch noch gut zu fühlen.

Doch das war erst der Anfang. Ein paar Monate später bot mir mein Onkel eine Essecke an. Sie stammte aus dem Nachlass einer verstorbenen Bekannten. Dunkles, massives Holz, klobig und erdrückend. Es passte nicht in meine kleine Wohnung, nicht zu mir, nicht in mein Leben.

„Ich brauche sie nicht, danke“, sagte ich vorsichtig.
Stille. Einen Moment lang schien die Luft zwischen uns zu gefrieren. Dann zog er die Augenbrauen hoch, runzelte die Stirn.

Ich wusste, was das bedeutete. Ich wusste, dass ich jetzt in Ungnade gefallen war. Und tatsächlich: Plötzlich wurden Einladungen seltener, Nachrichten wurden nicht mehr beantwortet. Ich hatte ihre „Großzügigkeit“ zurückgewiesen – und dafür gab es eine Strafe.

Doch das Schlimmste erschien in Form eines Mannes.

Ich hatte ihn online kennengelernt. Er war verständnisvoll, hörte mir zu, sprach mir Mut zu. Er sagte, ich könne mich jederzeit bei ihm melden, wenn ich etwas brauche – sei es Geld, Unterstützung oder einfach ein offenes Ohr.

Zuerst war erleichtert. Und ja, auch dankbar. Aber tief in mir war ich vorsichtig. Ich wollte glauben, dass es uneigennützig war. Doch mit der Zeit änderte sich etwas.

Seine Nachrichten wurden anders. Erst nur ein unterschwelliger Ton, dann offene Andeutungen. Als er mir Geld anbot, spürte ich sofort das Gewicht der Schuld. Es war, als würde er ein unsichtbares Band zwischen uns knüpfen – eines, das mich an ihn binden sollte.

Ich zögerte, wusste nicht, was ich tun sollte. Die Not war da. Aber mit jeder weiteren Nachricht wurde mir klarer: Das hier war keine Hilfe. Es war ein Handel, den er früher oder später einfordern würde.

Ich fühlte mich beschmutzt, verzweifelt. Als hätte ich mich in eine Situation manövriert, aus der ich nicht mehr herauskam.

Zum Glück bekam ich rechtzeitig andere Hilfe – eine, die mich nicht erdrückte, nicht manipulierte. Sie kam leise, ohne Bedingungen. Ohne den unausgesprochenen Preis, den ich irgendwann zahlen müsste. Es waren Menschen, die verstanden, ohne Fragen zu stellen. Die selbst wussten, wie es ist, sich zwischen Demütigung und Not entscheiden zu müssen. Ein kleines Netzwerk aus Unterstützung – unbürokratisch und ehrlich. Kein Mitleid, kein Druck. Nur echte Hilfe – die Art, die dich stärkt, statt dich klein zu machen.

Doch ein Gedanke bleibt weiterhin bestehen.
Was, wenn ich niemand anderen gehabt hätte?

Denn wer arm ist, darf nicht wählerisch sein.

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